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Leseprobe
Mario Moritz
Die letzten BIOFORM
1. Tao Haag
Milliarden von Funken stoben durch den Raum, tanzten einen irren Reigen, merkwürdigerweise ohne ihn zu berühren. Langsam gesellten sich Geräusche dazu. Ein leises Prasseln und unterschwellig ein Klopfen, dumpf und fern noch, aber ständig lauter werdend. Als es zu einem Dröhnen anschwoll, kam er zu sich. Schlagartig setzte sein Bewusstsein ein und riss ihn in die Gegenwart.
Tao Haag! Sein Name war Tao Haag, Ergebnis der Verschmelzung einer chinesischen Samenzelle mit einem holländischen Ei, ausgetragen von einem Wom. Er vernahm immer noch das Dröhnen und stellte fest, dass es aus seinem Kopf kam. Sein Puls raste, der Kontrollchip analysierte das als Gefahr und alarmierte mit einem Audiosignal.
`Ich muss mich beruhigen!', dachte er immer und immer wieder.
Es dauerte noch etwa zwei Minuten, bis sich sein Zustand normalisiert hatte und das Geräusch verschwand. Jetzt erst öffnete er die Augen und erblickte über sich das Ei des Neuronal-Spiegels. Die Blaufärbung signalisierte Stabilität, wobei noch einzelne orangefarbene Ringe vom vorherigen Stress zeugten.
"Guten Morgen, Tao Haag. Hattest du einen guten Schlaf?", flüsterte ihm die sanfte Frauenstimme des Überwachungsprogramms ins Ohr.
"Nein!", knurrte er. "Das müsstest du am besten wissen."
Argwöhnisch beobachtete er das Ei, welches sich aber nicht verfärbte. Er hatte sich in der Gewalt.
"Es ist Zeit für die Nahrungsaufnahme", säuselte wieder die Stimme.
Tao Haag steckte den Peristaltikschlauch auf die Anschlusskanüle an seinem Bauch und lehnte sich zurück. Dreißig Minuten hatte er nun Zeit, um über diesen Traum nachzudenken.
Während der Fütterung war das Programm mit der Analyse des Körperzustandes beschäftigt, um eine ausreichende Versorgung mit Vitaminen, Eiweißen und Kohlenhydraten zu gewährleisten. Er schloss die Lider, und augenblicklich erschien das Gesicht von Nora Lee vor seinem geistigen Auge. Von ihr hatte er geträumt. Ein warmes Gefühl breitete sich in seinem Körper aus, doch das schob er auf die einsetzende Verdauung.
Seit einem Jahr arbeitete er sie am Meiler ein. Sie sollte seinen Platz einnehmen, am Tag des Lichts. Wieder formierte sich ein Bild aus dem Traum in seinem Kopf. Er war unterwegs zum Tempel, um den letzten Weg anzutreten. Nora Lee versuchte ihn daran zu hindern.
Warum?
Der Lebensweg eines BIOFORM war vorgegeben und folgte den Gesetzen der Rationalität. Nach der Verschmelzung von Samen und Eizelle im Reagenzglas mit erfolgreicher Zellteilung erfolgte die Reife im Wom, einer Bioblase, welche die Entwicklung überwachte und die für den späteren Einsatz nötigen Chips implementierte.
Die Abnabelung erfolgte nur bei perfekt ausgebildeten Individuen. Allerdings lag die Ausschussquote recht hoch. Tao Haag sah fast täglich Behälter, die zum Tempel des Lichts gebracht wurden. Alle vollständigen BIOFORM lernten den Gebrauch des Körpers in der Zuchtwabe. Nach etwa zwei Jahren erfolgte die Umsetzung in den Schulungstrakt. Dort wurden sämtliche Muskelgruppen und Hirnzonen für den späteren Einsatz stimuliert und aufgebaut. Gleichzeitig unterzog man sie einer hormonellen Behandlung. Mit fünfzehn Jahren war man arbeitsfähig und kam an seinen vorgesehenen Arbeitsplatz. Die Einarbeitung dauerte noch einmal ein Jahr, unter Anleitung des Vorgängers. Je nach individueller Leistungserschöpfung arbeitete man die restliche Zeit, zehn Stunden am Tag, sechs Tage die Woche. Einen Tag hatte man zur Regeneration. In der Regel dauerte es vierzehn Jahre, um dann im Tempel des Lichts sein Leben zu beenden.
Tao Haag konnte bisher daran nichts Falsches finden. Alles war klar und logisch, bis er begann, Nora Lee anzulernen. Sie stellte sich sehr geschickt an. Jeder Handgriff zur Überprüfung der Sicherheitseinrichtungen war ihr innerhalb kürzester Zeit in Fleisch und Blut übergegangen. Auch ihr analytisches Verständnis bei der laufenden Kontrolle am Meiler gaben keinen Grund zum Klagen. Störungen fing sie selbstständig ab, er könnte sich also in Ruhe auf sein Ende vorbereiten. Aber mit der Zeit spürte er immer weniger Lust auf den Tag des Lichtes.
Es begann damit, dass er ihre Art sich zu bewegen beobachtete und als angenehm einstufte. Es war zwar ohnehin seine Aufgabe, sie zu kontrollieren, aber diese Einstufung lag außerhalb der Ratio. Sie bemerkte seine langen Blicke durchaus und versuchte, sich noch graziler zu bewegen.
Beim gemeinsamen Check der Betriebsparameter kam es vor, dass sie sich berührten, was wieder ein seltsames Gefühl in ihm auslöste. Offensichtlich ließ die Wirkung der Hormonbehandlung mit den Jahren nach. Gut, dass sich der Neuronalspiegel nur im Privatbereich befand, er hätte ständig rote Wellen erzeugt, als Zeichen seines erregten Zustandes. Unangenehm war, dass sein Kontrollchip in diesen Momenten laut Alarm schlug und mit seinem Geräusch Kopfschmerzen hervorrief. Sie quittierte sein schmerzverzerrtes Gesicht mit einem Hochziehen der Mundwinkel und einer seltsamen Idee.
"Soll ich ihn abschalten? Der Chip soll dich warnen, nicht dir Schmerzen zufügen."
"Ist das denn erlaubt?", hatte er gefragt.
"Ist es verboten?", lautete ihre Gegenfrage.
Mit wenigen Handgriffen hatte sie den Analysestutzen über seinem rechten Ohr geöffnet und den Adapter angedockt.
"Ich werde eine Zeitschleife legen. Wenn du deinen Privatbereich verlässt, schaltet der Chip ab, betrittst du ihn nach zehn Stunden wieder, aktiviert er sich. So wird auch dein Neuronalspiegel normal funktionieren."
Sie schloss den Stutzen wieder.
"Woher weißt du, wie das geht?", fragte er.
Nora Lee zuckte mit den Schultern.
"Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich anders geschult worden, habe einen neueren Kreativchip. Keine Ahnung." Sie legte eine Hand auf die seinige.
"Hast du mal darüber nachgedacht, was es ist, das deinen Kontrollchip in Alarmzustand versetzt?"
Er senkte die Augen. "Du bist es. Aber ich weiß nicht, warum."
"Du kannst dich abnabeln, Tao Haag", flüsterte das Programm.
"Bitte, beruhige dich! ... Bitte, beruhige dich! ... Deine Parameter liegen über dem Grenzbereich!"
Er öffnete die Augen. Konzentrische, rote Ringe liefen über den Neuronalspiegel. Erneut versuchte er, sich in den Griff zu bekommen, versuchte, die Gedanken ins Nirwana zu lenken, während er den Nahrungsschlauch entsorgte. Doch es fiel ihm schwerer als vorher.
"Dein Wasserhaushalt ist zu gering. Du musst etwas trinken."
Widerwillig goss er sich ein Glas Mineralwasser ein und leerte es in einem Zug.
"Es ist Zeit für das Refresh-Programm, Tao Haag", raunte wieder das Programm.
Irgendwie löste die Stimme heute Unmut in ihm aus. "Ich geh' ja schon", knurrte er und klappte die durchsichtige Röhre aus der Wand. Er öffnete den Deckel und ließ sich hineingleiten.
Sanft passten sich die Polster seiner Körperform an, während sich die Atemmaske auf Mund und Nase legte und der Deckel mit leichtem Schmatzen schloss. Mit einem leisen Zischen strömte Sauerstoff in seine Lungen, mischte sich mit dem Geräusch der einfließenden warmen Wasser-Öl-Emulsion. Tausende kleiner Düsen pressten Luft durch die Polster und hoben seinen Körper leicht an. Gleichzeitig begann die Flüssigkeit zu rotieren. Durch einen Schlauch an der Seite wurden biochemische Katalysatoren dazudosiert, während sich die Röhre aufrichtete. Nach Erreichen der Vertikalen senkte sich der Ringstrahler, fuhr auf und ab und hüllte alles in sein gespenstisches, violettes Licht.
Das Ganze diente der Zellregenerierung. Der Zerfall der Zellstrukturen, bedingt durch die harte Strahlung des Meilers, konnte zwar dadurch nicht rückgängig gemacht werden, verlangsamte ihn jedoch. Das halbstündige UV-Emulsionsbad musste vor und nach der Arbeit eingenommen werden.
Er genoss diesen Schwebezustand und hatte währenddessen Zeit, seine Gedanken kreisen zu lassen. Dieses ist das erste Kapitel. Die komplette Geschichte ist in dem Buch "Future World" abgedruckt, welches ihr im Go-Verlag bestellen könnt.
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